St. Pauli ist eine der innovativsten Fanszenen der Welt. Der einzigartige Ruf des Vereines und seiner Anhänger ist in den 80er und 90er Jahren aus dem Nichts geschaffen worden und von der Fanszene begründet worden. St. Pauli war damals Vorreiter und Vorbild vieler neuer Entwicklungen in Deutschland und in der Welt. Und heute? Wie ist eigentlich der Stand?
Kritik an einzelnen Verhaltensweisen in konstruktive Ideen umwandeln, Begeisterung schaffen, Diskussionen zu führen, dies sind die Ziele. Wie ist der Status Quo? Wo wollen wir hin? Was ist Toleranz? Was ist die Grundlinie?
Fragt Norbert vom Magischer FC Blog.
Und wir (“St. Pauli-Blogger”) sind aufgerufen zu antworten. Dass die damit verbundene Aufgabe, der gewünschte Text nicht unbedingt “mal so eben” zu schreiben ist, war mir irgendwie von Anfang an klar. Aber dass es mich ungefähr 5 Seiten Experimente und Verwerfen bedeuten würde, bevor ich irgendwas mich halbwegs zufriedenstellendes haben würde, war mir nicht bewußt.
Also los:
Wer sind wir?
Wir sind politische Fußballfans.
Nach ungefähr drei Tagen immer-mal-wieder-darüber-nachdenken ist das fast die einzige Aussage, die ich irgendwie unterschreiben könnte.
Gerne auch deutlich:
Wir sind politische Fußballfans.
Wir sind so unglaublich verschieden. Ultras und Oldtras. Sitzplatzinhaber und Stehplatzfans. Dauer-Singsang vs. Spielbezogen.
Aber wir sind politisch. Nicht im Sinne einer gemeinsamen Meinung zu Einzelthemen. Eher in dem Sinne, sich selbst als Element politischer Prozesse zu begreifen. Artikulation von Meinung, die über ein “Scheiß Schiri” hinaus geht. Akzeptanz, dass auch andere Themen, auch im Stadion, ihren Platz haben sollten und dürfen.
Ich glaube tatsächlich, dass dies der eigentliche große Gleichmacher bei uns ist. Wir sind politisch. Und je häufiger ich das schreibe, desto eher fühlt sich das richtig an, richtig im Sinne der Beschreibung des “wir”.
Wie ist eigentlich der Stand? Was ist der Status Quo?
Abseits dieser einen Gemeinsamkeit gibt es keinen “Stand”. Irgendwie.
Es gibt viele Stände. (Herr Kalau in meinem Kopf schlägt vor, den Fanräume-Stand zu erwähnen, die Selbstbeherrschung nebenan schafft es immerhin, dies in Klammern und außer Kontext zu setzen). Es gibt die Ultras, die ihren eigenen Stand haben, ihr eigenes Sein. Es gibt die Haupttribühnen-Logen-Sitzer. Es gibt die Nordkurvler. Und in den Gruppen um oder bei 22.000 verschiedene Stände.
Und wo stehe ich?
Es gibt so viele Themen. So viele Diskussionen. Susis Stangentanz. Business-Seats. Werbung im Mittelkreis. Dauer-Lala. Sportliche “Krise”. Abstiegsangst. Aussperrungen. Kernkraft. Gewalt im und ums Stadion. Wahlen in Sachsen-Anhalt. Trainerwechsel bei gefühlt der halben Bundesliga. Saisonplanungen für 2011/12.
Und irgendwie – bei aller Begeisterung über ein gepflegtes sich-Aufregen zu vielen dieser Themen – sich-Aufregen über viele unsinnige Aussagen – irgendwie ist das toll. Irgendwie zeigt das ziemlich genau, was diesen Verein zu meinem Verein macht. Die Integration der Außenwelt ins Stadion. Oder des Stadions in die Außenwelt. Das Verschmelzen gesellschaftlicher und politischer Themen mit Fußball. Neben dem Spiel immer auch die ernsten, die wirklich wichtigen Themen. Aber neben dem Ernst des Lebens auch immer des Ballspiel und die kindliche Freude über ein Tor. Eben noch grübelnd darüber diskutiert, was man sich jetzt energiepolitisch wünscht, und plötzlich der Mannschaft beim Einlauf zujubelnd. Und ich hab keine Ahnung, wie es anderswo ist, aber ich weiß, dass es hier gut ist.
Wo wollen wir hin?
Erik hat mich neulich vor der Domschänke, mit Bezugnahme auf mein letztes Posting, zu mehr Eindeutigkeit aufgefordert.
Hab doch mal den Mut dazu zu stehen.
Ohne Aber. Kein sowohl als auch, sondern ein So.
Aber für mich gibt es kein Eindeutig. Nahezu nie. Das finde ich nicht schlimm, eigentlich mag ich das sogar an mir. Und eigentlich mag ich das vor allem am FC St. Pauli. Es gibt nur sehr wenig eindeutiges. Antirassismus ist eindeutig. Das ist prima. Alles andere ist nicht weiß oder schwarz, sondern grau. Mal dunkler, mal heller. Und für jeden ist das grau anders. Mit Grün- oder Rot-Tönen. Lila oder Pink. Ganz selten bestimmt sogar schwarz-gelb.
Und genau das will ich.
Ich will Menschen um mich herum, die ihre eigene und begründete Meinung haben. Dabei muss das meistens nicht meine Meinung sein, auch wenn die natürlich die richtige wäre.
Ich will mich reiben können, an anderen. Andere Standpunkte werten den eigenen auf. Helfen, ihn zu entwickeln. Zu verändern. Zu optimieren.
Ich will Menschen um mich herum, die das Spiel lieben. Die die Mannschaft anfeuern, die mit dem Herzen dabei sind.
Ich will Menschen um mich herum, die Ihren Kopf nicht irgendwo abgeben müssen, um ne gute Zeit zu haben. Menschen, die Ihren Kopf bestenfalls brauchen, um eine gute Zeit zu haben.
Ich will Menschen um mich herum, denen der sportliche Erfolg nicht über alles geht. Die auch anfeuern, wenn’s auf dem Platz scheiße läuft. Die nicht beim ersten Abstieg woanders hin gehen.
Ich will kuschliges, familiäres Stadionerlebnis mit 60.000 (Steh-)Plätzen. ich will SMS-Ticker-Aktionen und hinterher den Jolly Rouge.
Ich will Fußball und Politik in einem Gespräch unterbringen können. Ich will parallel panisch aufs Spielfeld gucken und zugleich gebannt einem Gespräch über Einwanderungspolitik lauschen.
Das will ich. Da will ich hin. Und dabei ist mir (fast) egal, welche Meinung diese Menschen haben.
Ich will keine Eindeutigkeit. Keine Gleichschaltung.
Ich will ja – aber. Will sowohl als auch.
Ich will, dass alles so bleibt, und sich verändert.
Ich will, dass es besser ist und anders wird.
Eindeutig genug, Erik?
Mach mit den Farben weiter, such Dir eine aus und … stehe zu ihr. Nein, nicht zufrieden, aber das ist ja auch nicht Deine Aufgabe ;)!!
@Curi0us Schön geschrieben und gut auf die Punkte gebracht. 🙂
@ring2 Ich wähle bunt. 😉
Einen Satz hab ich dann doch zwei Mal lesen müssen:
😉
@Erik Grau. Meliert. 😉
@TantePolly Danke!
@Markus Reibung erzeugt Wärme. 😉
Widersprüchlich und bunt, nicht gerade eindeutig – aber deswegen gerade spannend. Gleichschaltung ist auch mir ein Graus, dennoch wünsche ich mir gewisse politische Richtungen trotzdem nicht im Stadion. Rechtsextreme beispielsweise. Allgemein stehe ich gegen Menschenverachtenes auf und sehe das nicht als belebende Reibung an, sondern als Notwendigkeit am Millerntor. Wobei ich meine Person hier nicht hervorheben will, sondern vielmehr die Fanszene als solches, in der dieses nicht nur möglich, sondern gerade normal und zu erwarten ist. Die Bereitschaft, auch gegen weniger schlimme Fehlentwicklungen aufzustehen und laut dagegen anzugehen, das ist ein Reiz, den die Fanszene des FCSP ausmacht. Das aber gerne bunt und widersprüchlich. ^^
Pingback: Richtungsweisend – die Fanszene oder die Vereinsführung des FC St. Pauli? « KleinerTods FC St. Pauli Blog
@Kleinertod unbestritten will auch ich bestimmte Richtungen, vor allem eben – wie Du ja auch sagst – Rechtsextremismus und ähnliches, nicht im Stadion haben. So ist das oben auch nicht gemeint, nicht jede andere Meinung ist automatisch belebend.