In welcher Welt…?

Drüben bei Twitter tauchte die Frage auf, was „Links sein“ ausmache.

und wie ich so bin, hab ich dann erstmal einen Tweet darauf geschrieben, in dem ich versuchte kurz und knackig meine Position darzustellen.

Danach fing ich dann an nachzudenken.

Fing an, mich zu fragen, was für mich links ist. Ob ich mich als links empfinde, ob mir die Zuordnung zu „links“ wichtig ist. Schließlich führte mich das zu der vermutlich für „linke“ wie „rechte“ unter und hinter ihrer Position stehenden eigentlichen Frage:

In was für einer Welt möchte ich leben?

Tjanun. Ich kann das beschreiben, ich kann Dinge und Umstände benennen, die mir wichtig sind. Ich weiß für viele der Sachen nicht, wie wir sie erreichen können, aber ich möchte dennoch einmal beschreiben, wie ich mir die Welt wünsche.

Kurze Antwort aus meinem Tweet:

https://twitter.com/Curi0us/status/949337856392212480

Lange Antwort:

Ich möchte in einer Welt leben, in der alle Menschen ganz grundlegend für sich selbst entscheiden können, wie sie leben möchten. Allein oder mit anderen, in welchen Partnerschaften und Beziehungen, mit oder ohne Kinder. In einer Welt, in der sexuelle Orientierung ein Thema ist, das ungefähr so spannend diskutiert wird, wie meine aktuelle Frisur. Schlicht hingenommen. für Teilnehmer sexueller Aktionen zwischen individuen relevant, für alle anderen einfach da. Lieb doch, wen Du willst.

Ich möchte in einer Welt leben, in der „die Gemeinschaft“, also wir alle, im Zweifel wichtiger ist, als das Individuum. In der also Dinge getan oder gelassen werden, weil es für „alle“ besser ist, sie zu tun oder zu lassen. In der „für alle“ Straßen gebaut werden oder Schulen. In der „für alle“ Lehrende bezahlt werden, „für alle“ Kinderbetreuung sichergestellt wird, „für alle“ der Müll abgeholt wird, „für alle“ Der Bus und die U-Bahn fährt. Auch wenn mir oder Dir oder Ihr oder Ihm nicht gefällt, wenn die U-Bahn dann vor seinem Haus hält. Und in dieser Welt müssen eben auch „alle“ sich dafür einschränken. Sprich: „Alle“ müssen zahlen. Wichtig ist, dass dabei die persönliche Individualität nicht eingeschränkt werden muss. Aber ich halte es für wenig Individuell sich eine U-Bahn freie Nachbarschaft zu wünschen. Das hat nichts mit dem Individuum zu tun, sondern viel mit dem Drumherum.

Ich möchte eine Welt, in der es um Ausgleich geht. Den Ausgleich von Möglichkeiten. Anders gesagt: Chancengleichheit.

Das fängt damit an, dass jede*r vergleichbare Bildung genießen kann, jede*r ohne Ansehen von Herkunft, Elternhaus, Haut- oder Haarfarbe etc. eine vernünftige Schule besucht (und dazu zählt für mich auch die Möglichkeit sich relativ sorgenarm weiter zu bilden. Ob nun per Ausbildung, Universität oder sonstwie). Heißt für mich: Bildung z.B. müssen „alle“ finanzieren.

Ausgleich heißt aber auch, dass nicht alle gleich zur Finanzierung beitragen. Wer mehr hat, trägt mehr bei. Grundlegende  Idee dahinter ist, dass diese „mehr“ seine Ursache ja darin hat, dass die Welt so ist, wie sie ist. Dass den Mehr habenden dieses Mehr durch die Gesellschaft ermöglicht wurde, und sie deshalb davon an die Gesellschaft auch zurückzahlen müssen.

Chancengleichheit heißt auch, dass alle (und zwar nicht nur am Tag 0 des Lebens) möglichst ähnliche Möglichkeiten bekommen, sich weiter zu entwickeln. „Weiter zu kommen“. Jede*r sollte eine realistische Chance auf Wohnraum haben. Jede*r sollte essen können, ohne Sorge, ob am nächsten Tag noch was da ist. Und zwar ohne dafür abgewertet zu werden. Ich glaube derzeit, dass ein Bedingungsloses Grundeinkommen hierfür eine wegweisende Möglichkeit sein könnte. Ich glaube nämlich nicht, dass Menschen aufhören produktiv zu sein, nur weil sie sich weniger Sorgen machen müssen. Zumal wir mittelfristig sowieso anfangen werden müssen, darüber nachzudenken, wie wir mit der fortschreitenden Automatisierung umgehen, ohne irgendwann immer mehr Menschen in der Gesellschaft zu haben, denen wir es trotz gesamtgesellschaftlichem Wohlstands und ohne Ressourcenknappheit nicht ermöglichen, ein menschenwürdiges Leben zu führen.

Ich weiß nicht, ob das BGE die optimale Lösung ist, aber der Grundgedanke, dass „für Essen, Wohnen und grundlegende Lebensumstände in positiv zumutbarer Weise gesorgt wird“ gefällt mir. Und ich halte Hartz IV und ähnliche Werkzeuge da für den falschen Weg, schon allein weil so Bedürftigkeit produziert wird, weil so Ausgrenzung geschieht.

Ich glaube, dass so etwas, wie das BGE „ermöglicht, statt einzuschränken“. Dass Menschen so mit gutem Gewissen und gutem Gefühl Schaffen können, ohne (zu große) Sorgen zu haben. Du willst Malen? Male. Rechne damit, dass Du nicht reich wirst, aber lebe zu würdigen Bedingungen und sei glücklich. Du willst lernen? Lerne. Du willst handwerklich arbeiten? Arbeite! Du weißt nicht, was Du willst? Lebe.

Hartz IV schränkt ein. Sagt „Hier ist Dein Geld. Und jetzt handle, wie es sich *der Staat* wünscht. Bewirb Dich. Iß billig. Wohne heruntergekommen. Protokolliere Dein Handeln. Sei dem Staat gefällig“. Das möchte ich nicht.

Ich glaube nicht, dass es uns allen schlechter geht, nur weil es jedem einzelnen gut oder zumindest aushaltbar geht. Ermöglichen wir, ohne einzuschränken.

Ich will eine Welt, in der dennoch Unterschiede existieren. In der für herausragende Leistungen belohnt wird. Ob nun durch Ansehen, Applaus oder mehr Geld. Ich glaube, dass für viele Menschen so Motivation geschaffen wird, über den Standard hinaus zu wachsen. Und ich bin davon überzeugt, dass das geht, ohne dass es denen, die am wenigsten haben schlecht gehen muss.

Ich will aber auch Ausgleich. Ich glaube nicht, dass jemand, der 10 Millionen verdient bessere Arbeit leistet, als jemand der 2 Millionen verdient. Umgekehrt: Ich glaube, dass leistungsfähige und motivierte Menschen zunächst nicht primär für die monetäre Entlohnung leistungsfähig und motiviert werden. Die irgendwann absurd werdenden Zahlen entstehen schließlich nicht aus der individuellen Motivation, sondern aus dem Wettkampf unterschiedlicher „Arbeitgeber“ um die aus ihrer Sicht besten Kräfte. Will ich den gefühlt besten haben, muss ich mehr bieten, als sein jetziger Arbeitgeber.

Hier kann die Gesellschaft regulierend eingreifen. Maxima schaffen. Abschöpfen. Wie groß soll die Spreizung zwischen dem, was jeder bekommt und dem was der bekommt, der am Meisten kriegt sein? Hundertfach? Tausendfach? Ich weiß es nicht, aber darüber sollte man reden.

Ich will eine Welt, in der Rationalität wichtig ist. In der Beweise zählen. In der Wissenschaftlichkeit im Zweifel den Ausschlag gibt. In der das, was für „alle“ gemacht wird (will sagen: Was die Gesellschaft bezahlt) auf Basis rationaler Argumente entschieden wird. (Ja: In der die gesellschaftliche Krankenversorgung sich darauf beruft, was evident – also beweisbar – den Zustand verbessert. Auf Zahlenbasis.).
Eine Welt, in der Gefühle ernst genommen werden, weil sie uns (und ja, mich nervt das selber) menschlich machen. Aber wenn es um Entscheidungen für die Gesamtheit geht diese eben nicht auf faktenlosen Einzelpositionen basieren sollen.

Eine Welt, in der Entscheidungen pro oder contra Gentechnologie oder Teilchenbeschleuniger oder Weltraummissionen nicht auf Basis von rein esoterischen Positionen, sondern möglichst informierter Nutzen-Risiko-Abschätzungen getroffen werden. Eine Welt in der Grundlagenforschung wichtig ist und ernst genommen wird. Eine Welt, die nicht den Status Quo konservieren will, sondern nach Veränderungen strebt, nach mehr Wissen, mehr Können.

Ich möchte eine Welt, in der alle ihren Platz finden können. In der alle sich ernst genommen und akzeptiert fühlen. Ob sie nun gute Marktfoscher, gute Fußballer, gute Zuhörer oder gute Redner sind. Gute Freunde oder gute Esser. Eine Welt in der „All People are equal“ nicht nur gesagt sondern gelebt wird.

Wen ich mag oder nicht ist meine Sache. Aber „Der Staat“ oder „Die Gesellschaft“ soll und muss jeden der ihren gleich mögen. (Übrigens führt mich das dann doch wieder zum BGE zurück: Wer Hartz IV ‚beantragt‘ fühlt sich sicher nicht gemocht. Weil wir alle das Gefühl geben, man läge damit der Gesellschaft auf der Tasche. Beim BGE.. hey, das kriegt jeder. Ich hab ja genauso eines, wie Du. Und wenn ich mehr habe, freue ich mich darüber.)

Ich möchte eine Welt in der wir alle viel mehr darüber reden, was uns glücklich macht und was uns weiter bringt. Und viel weniger darüber reden, was uns stört und nervt und und und. Viel mehr sagen „das ist toll“ und weniger „das ist doof“. Viel mehr Freude daran, jemanden zum Lächeln gebracht zu haben, als sich selbst über jemanden zu erheben.

Ich möchte bestimmt noch viel mehr. Und bestimmt gibt es zu all den Gedanken da oben Menschen, die mehr wissen, mehr können, klügere Ideen haben. Und es heißt immer, die Linke würde immer nur einschränken. Du darfst dieses nicht sagen, Du sollst jenes nicht tun. Warum eigentlich? Ist das da oben nicht, bin ich nicht links?

Reden wir nicht darüber, was wir nicht wollen, reden wir darüber, was wir wollen. Reden wir darüber, was an unserer Welt alles toller und lebenswerter ist, als an dieser. Warum wir die besseren Ideen haben, als die.

Erzählt mal!

Ihr habt Blogs, hier gibt es Kommentare, es gibt soziale Medien. In welcher Welt wollen wir leben?

In welcher Welt wollt Ihr leben?

2 Gedanken zu „In welcher Welt…?

  1. Ich stimme dir zu 99% zu. Mein einziger, klugscheißerischer, Punkt ist die übliche „falsche“ Verwendung des Wortes „evident“. Im Deutschen steht das, im Unterschied zu „evidence“ im Englischen nämlich nicht für „wissenschaftlich bewiesen“ sondern für „offensichtlich“, also einem Fakt der keines Beweises bedarf.

  2. Pingback: Die Sonne aus dem Arsch – ballfunk

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