Hallo Wand, alte, blasse Freundin hinter dem großen Bildschirm.
Hallo Regale. Darf ich Euch noch Obstkisten nennen?
Hallo Bücherrücken.
Hallo Yoshi.
Hallo Zecki.
Hallo Kenny.
OH MY GOD, THEY KILLED KENNY!
A propos. Hallo Tod.
Flashbacks
Februar
Diskussionen darüber, ob/wie/wann eins mal ausnahmsweise im Homeoffice arbeiten darf/kann/sollte.
Wie geil wir es finden, wenn Mitarbeiter*innen nicht am Präsenzarbeitsplatz aufschlagen. Außerhalb von „muss heute von zuhause…die Heizungsableser*innen“ oder so-Gründen.
März
Und dann ging irgendwie alles ganz fix. „Wir stellen es jede*r frei, zuhause zu arbeiten“. Die alte Schreibtischplatte reaktiviert, zwei Böcke zum drunterstellen von Mamas Dachboden später und dank aus dem Büro nach Hause gefahrenem Schreibtischstuhl plötzlich ein „richtiger“ Arbeitsplatz zuhause.
Nicht mehr im Schneidersitz vorm Laptop.
Das hat zwar für einen Tag mal funktioniert, aber macht mittelfristig wohl doch eher Rücken als glücklich.
April
„Könnt Ihr mich hören?“
So langsam wird es zur Gewohnheit die Wand anzustarren.
Während ich „richtig“ im Heimbüro ankomme und wir den Umzug aus dem Präsenzoffice glaube ich ganz gut bewerkstelligen, schlägt einfach der erste „Lockdown“ (ich möchte es eigentlich „das Lockdownchen“ nennen) durch.
Gefühlt macht alles Pause.
Und rumsitzen und die Wand anstarren macht (mir) böse Gedanken und Gefühle. Ich kann eh nur begrenzt gut „nixtun“. Wochenlang? Uffffff.
Vor allem, wenn gerade eh überall nicht so viel zu tun ist, wie vielleicht sollte. Wenn keine Produktivitätsarbeit dabei nicht mal mit Sozialkontakten kompensiert werden kann. Wenn aus „jedes Wochenende unterwegs – Fußball, Fahrten, Freund*innen“ tageintagaus rumsitzen und die Wand (und die Monitore) anstarren wird.
Videocalls werden nicht nur beruflich der neue heiße Scheiß.
Und so schön es ist, so einen Weg zu haben Freund*innen zu sehen und hören und… zu fühlen irgendwie. So sehr starre ich durch alles durch eben auch und vor allem immer noch auf die Wand.
Und eigentlich gehen auch einfach die Themen aus.
„Und Du so?“
„Rumsitzen, Serien gucken“
„Joah.“
„Joah…“
Juli
„Könnt Ihr meinen Screen sehen?„
Ja, können wir. Das da, vor der Wand.
Der Sommer macht alles irgendwie…etwas leichter.
Sozialkontakte finden zumindest gelegentlich und mit Distanz und größerer Vorsicht wieder statt. „Umarmen wir uns?“ – „Mh. Mit Maske vielleicht?“
Aber ehrlich gesagt ist dazwischen die Wand anstarren bei 35° auch nicht signifikant besser als bei 10°.
August
„Ich muss kurz an die Tür, Pakete. Moment!“
Auf der einen Seite hab ich mich glaube ich an alles ganz gut gewöhnt und mit allem ganz gut arrangiert. Tägliches „rentnern“ (spazieren, ggfs. mit Supermarktbesuch), um wenigstens irgendwie in Bewegung zu bleiben und mal was anderes zu sehen als die Wand oder die Screens vor der Wand oder die Wand durch die Screens oder die Kolleg*innen in der x-ten Videokonferenz.
Mal ab von allem anderen: Irgendwie entgleist das auch alles. Die Videokonferenzitis strengt mich gelegentlich unfassbar an. Müssen wir echt für Je-des Thema nen „Call“ machen?
Aber die Wand anschreien ist ja auch keine Lösung. Die Wand kann nix dafür.
Und als dann gerade doch eigentlich mal alles gut ist macht der Körper lustige Dinge und Du liegstsitzt ein sehr langes Wochenende spontan im Krankenhaus und denkst Dir „upsi“.
(Lauter denken. Und mit mehr Gruseln lesen bitte. Noch mehr Gruseln. Ja. So „UPSI!“)
Ich bin geneigt ein „zum Glück am Ende nichts passiert“ hinterherzuschieben, aber so ganz stimmt das dann wohl doch nicht. Auch wenn’s mir zum Glück genauso geht wie davor.
Trotzdem „Aus versicherungstechnischen Gründen dürfen Sie erstmal drei Monate kein Fahrzeug führen“ ist doof. (nein, da war kein Alkohol oder sowas im Spiel). Und UPSI! ist jetzt auch nix, was ich noch mal haben will.
September
„Bewegen Sie sich!“
Ich bin noch nie so viel spazieren gewesen, wie im September. Das ist gut, weil ich so keine Wand mehr zum draufstarren vor mir habe. Also außer im Büro.
Ich bin seit März zum zweiten Mal persönlich in der Firma. Wie verstörend. Und alles ist seltsam und ungewohnt und weißichauchnicht. Zu dritt „bevölkern“ wir die leeren Räume. Jeder im eigenen Büro. Das eine Meeting in der Küche, 3-4m Abstand zwischen allen, Fenster weit auf. Auf ne sehr ruhige Art finde ich Pandemie hochspannend. Auch wenn ich das trotzdem lieber als Doku auf ARTE gesehen hätte.
Die Wand gibt Sicherheit, merke ich. Die Wand kriegt kein Covid und gibts mir vor allem nicht weiter. Die Wand trägt ihre Maske wie vorgeschrieben. Die Wand kommt mir nicht näher als sie soll.
Oktober
„Das geht ganz schnell und nach einer Nacht dürfen Sie schon wieder nach Hause“
Aus dem August-Upsi ergab sich ein Oktober-sollten wir mal. Spannend, was die moderne Medizin so alles irgendwie nebenher auf die Reihe kriegt. „und dann gehen wir an der Leiste durch einen kleinen Schnitt durch das große Blutgefäß ins Herz und da…und nach 20 Minuten wachen Sie wieder auf.“ Jedenfalls hat mir Arzt 1, der mit mir telefonisch den Termin plante versichert, ich wäre nach einer Nacht wieder draußen. Arzt 2, der mir dann nach dem Eingriff auf Station versicherte, es sei alles im Plan wollte mich dann aber „das ist so üblich“ lieber noch ne zweite Nacht. Ich will mich hier echt nicht beschweren, ich fühlte mich medizinisch meist wirklich gut aufgehoben, aber das mit der Kommunikation ist so ne Sache…
Die Wand schweigt.
Oktober ging dann trotzdem irgendwie ganz schnell. Trotz Pandemie schien es wieder „normaler“ zu laufen. Wenigstens am Schreibtisch. Die Blicke auf die Wand wurden seltener, weil der Screen davor wieder ausreichend Inhalt hatte. Und vielleicht auch, weil der Kopf dadurch nen Fokus hatte. Aus „vorübergehend zuhause Arbeiten“ wurde irgendwas anderes. Ein neuer Status Quo. Nicht besser oder schlechter. Einfach anders.
Vermisst Ihr Eure Präsenzarbeitsplätze?
Ich vermisse den Küchentalk mit meinem Team, vermisse es „Dinge mitzukriegen“, ohne mir Informationen holen zu müssen, weil irgendwer eben darüber redet. Vermisse die gemeinsamen Mittagspausen. Gleichzeitig funktioniert das mit dem Arbeiten doch ziemlich smooth.
November
„Du musst Dich immer noch entmuten!“
Erinnert Ihr Euch an „drei Monate kein Fahrzeug führen“? Ich mich jedenfalls besser als ich will. Der Hausarzt meinte schon im August ganz direkt zu mir „Holen Sie sich jetzt einen Termin beim Spezialexperten, der Ihnen dann die Fahrtauglichkeit wieder bescheinigt. Die sind schwer zu kriegen“. Faszinierenderweise ging das problemarm und der Termin ist Ende November.
Dachte ich. Also… nee anders: An einem Montag im November gegen Mittag ist der Termin. Anrufe vor neun empfinde ich als störend. Anrufe vor neun „Leider ist der Spezialexperte erkrankt“ empfinde ich als unglücklich machend. Neuer Termin Ende Dezember. Ja, geil. Der Spezialexperte hat anscheinend auch keine verfügbaren Spezialexpertenkolleg*innen und überhaupt. Nun.
Übrigens darf auch krankenversicherter Mensch hier den Spezialexperten selbst bezahlen, weil das keine Kassenleistung ist. Also alles andere schon, aber dafür… Na, ich will mich eigentlich echt nicht beklagen.
Komisch. Die drei Monate ohne Auto gingen ganz leicht. Trotzdem war der „verschiebe-Anruf“ ein ziemlicher Stimmungskiller. Als hätte ich mich an diesem Termin festgehalten. Na ja. Hilft ja nix. Übertönt irgendwie aber auch alles, was im November sonst noch so war.
Die Wand steht jetzt zwischen meinem Auto und mir.
Dezember
„Wir können Deinen Screen sehen! JA, DAS AUCH!!“
Spektakuläre Änderungen werfen ihre Schatten voraus: Die Wand leuchtet jetzt bunt.
ICH WAR BEIM FRISEUR! Und fühle mich sogar halbwegs frisiert. Highlights, 2020-Style. Wenn die Kolleg*innen das im Videocall sogar wahrnehmen, sagt das ja auch was über Covid-Hairstyles aus. Überlege, ob meine Wand meinen Style mag. Wahrscheinlich isses ihr einfach egal.
Ach und: Können wir bitte endlich aufhören für jeden Scheiß ein Meeting zu machen? Teils sitze ich acht Produktiv-Stunden am Rechner und hab hinterher das Gefühl, nix getan zu haben als in Videocalls zu sitzen. Und ja, bestimmt gehört das auch dazu, aber effektiv geht an Stellen echt auch anders.
Nach Weihnachten dann wirklich der Termin beim Spezialexperten. Testergebnis wie gewünscht. Yay! Test hätte meiner Meinung nach auch online und zuhause stattfinden können. Aber vermutlich ist der danebensitzende Spezial“ich schalte den Computer jetzt ein […] ich drücke jetzt auf Start„experte einfach zu wichtig. Wäre für mich klarer Fall von „und dafür hab ich jetzt studiert?“…well.
Rechnung und Gutachten schicken sie mir dann zu. Danke.
Jahreswechsel. Und trotz Pandemie und an-die-Wand-starren ist gerade mal alles fein.
Januar
Ich sag jetzt nicht mehr, dass ich jemanden nicht hören kann. Ich unterstelle jetzt Absicht. Glaube je nach Gegenüber finden Gegenübers das mal mehr, mal weniger schnafte, aber irgendwie ist jetzt auch langsam mal genug mit Education für andere. Fühle mich einfach nicht angesprochen. Funktioniert in der Praxis verstörend gut und ich frag mich inzwischen echt, wie viel Content in Videocalls ich mitkriegen muss, und ob es nicht eigentlich viel schöner wäre, 3/4 der Teilnehmenden einfach random zu muten und zu gucken, was dann produktives passieren könnte. Gelegentlich ist der Blick an die Wand furchtbar attraktiv geworden.
„Können Sie mich hören?“
Überraschung? Ja.
Videocalls (privat, beruflich, whatever) als Sozialexperiment.
Ich fange an in Typen zu clustern.
- Der mit dem wechselnden Hintergrund (quasi die Fips-Asmussen-Variante).
- Der mit dem Kind (abweisend)
- Die mit den Kindern (zugewandt)
- Der Abwesende (der nach 10 Minuten Meeting vergessen hat, worüber wir eigentlich reden, auf Ansprache erstmal hektisch den Entmute-Button sucht, aber dabei schon beginnt zu reden)
- Die mit dem Kaffee (immer ein Getränk in der Hand. Glaube, das bin ich)
- TBD
Februar
„Seid doch alle mal ruhig“
Du kannst halt schon mit 12 Leuten im Videocall sitzen, aber ohne Moderation ist einfach nix. Und wenn alle durcheinander reden hörst Du halt 11x white Noise. Statt den Mute-/Unmute-Button des Mikros sind der „Kopfhörer-Aus“-Knopf und ich inzwischen beste Freunde.
Die Wand und ich sind inzwischen sowas wie alte Bekannte. Fast ein Jahr schon. Faszinierend. Gestern den Schreibtischstuhl heimgebracht im letzten März. Vorgestern war ich noch beim Auswärtsderby im Volkspark. Zwischen gestern und Vorgestern noch in voller Gewohnheit im Präsenzoffice.
Mal gucken, wie lange wir uns noch so anstarren. Meine Wand und ich. Wir haben uns aneinander gewöhnt. Hatten gute und schlechte Tage.
Die Rechnung vom Spezialexperten hab ich übrigens immer noch nicht.