Stellen Sie sich die folgenden Zeilen bitte ungefähr im Tonfall von Sophia Petrillo von den Golden Girls vor.
Also im „Sizilien, 1932…“-Tonfall.
Hamburg, 1983 (oder so)…
Wie das so ist, fing die Schule an.
Also nicht irgendwann um 8 Uhr morgens, sondern Lebensphasenstyle-irgendwann mit ungefähr sechs Jahren.
Natürlich auch beim kleinen Curi. Und nein, nicht was Sie jetzt mit „kleiner Curi“ assoziieren, sondern einfach nur der junge Junge C.
„Irgendwann“ war 1980. Und Schule war zunächst „nur“ Vorschule. Aber mein bester Kindergartenfreund kam bereits in die erste Klasse und der kleine Curi wollte dann wohl auch. Dringlich.
Irgendwann dann eben Grundschule und Mittelstufe und Oberstufe und Zivildienst und Uni und Leben und so… aber ich schweife ab.
Da unsere Lehrerin Frau R. bereits älter und körperlich etwas eingeschränkt war gab es für uns in den ersten zwei Jahren der Grundschule keine Klassenfahrten. Frau R. wollte sich das alles nicht zumuten, und damals war das dann wohl noch so. Frau R. hielt es wohl auch für keine allzu schlechte Idee, uns bei ungehorsam auf die Finger zu schlagen, von daher war es vielleicht auch sonst keine allzu schlechte Idee, nicht mit Frau R. länger als nötig in einem Raum…
Aber wie das so ist in dem Alter, ich liebte sie heiß und innig.
Und dann wurde sie krank und wir bekamen eine Vertretungslehrerin. Frau C.
Die mochte ich nicht. Meine Mutter erzählt heute noch gern, dass ich Frau C. die Schuld daran gab, dass Frau R. nicht mehr zu uns in die Klasse kam. Die frühkindliche Version von „die kommen und nehmen uns den Job weg“, fürchte ich.
Zum Glück bin ich heute etwas älter und reifer und überhaupt.
Frau C. jedenfalls fand dann, damit wir uns alle, sie und ich und der Rest der Klasse, besser kennenlernten, wäre doch eine Klassenfahrt – meine erste Klassenfahrt – eine großartige Idee.
Ich war da zum Einen etwas gestresst, weil ich dank einer schweren – bei einem Aufenthalt bei meiner Großmutter ausgebrochenen – Scharlacherkrankung den Kausalzusammenhang „Nicht zu Hause schlafen => Krank“ gefunden und deshalb eine gewisse Skepsis gegenüber einer Woche im gefühlten Ausland hatte. Zum anderen etwas gestresst, weil das ja auch hieß, dass ich mit meiner Sandkasten-Grundschulenflamme Monika unfassbar viel Zeit verbringen könnte.
Monika wusste naturgemäß nicht, dass sie meine Flamme war – Sie kennen das. Ich war 8 oder 9 und irgendwie wäre ich wohl auch völlig damit überfordert gewesen, hätte sie es gewusst (oder gar die kindliche Zuneigung erwiedert)…
Strenggenommen sprachen wir meiner Erinnerung nach nicht miteinander. Damals – jedenfalls bei uns in der Schule – sprachen Jungs und Mädchen nicht viel. Eine Art selbst auferlegter Geschlechtertrennung, die erst zum Ende der Grundschule durchbrochen wurde.
In meinem Kopf war Monika jedenfalls großartig. Rote Haare (!), Sommersprossen, ein mich irgendwie beeindruckendes Lächeln.
Nun denn. Die Planung zur Klassenfahrt lief, irgendwie mussten Dinge organisiert werden, die dazu führten, dass Frau C., meine Eltern, und die Eltern der Mitschüler die ich so mitbekam, aktiver waren, als sonst. Der Aufregungspegel in der Klasse wuchs quasi täglich, und die Wartezeit auf die Klassenreise (ich schätze sie auf 2-3 Wochen, die ich davon als Wartezeit erlebte) zog sich unfassbar lang. Das betrachtet man als 8 Jähriger halt auch noch mit anderen Maßstäben.
Am Vor-Vorabend… also am Vorabend des Tages vor der Klassenreise – Abends war ich damals nämlich schon im Bett – gab es dann noch ein letztes Treffen der betroffenen Klasse, der Eltern und natürlich Frau C.
Ich erinnere mich düster, dass ich in einer, in meiner Ecke der Klasse rumsaß und irgendwie keine Lust hatte.
Ich erinnere mich auch, dass Monika nicht da war. Aber das waren auch andere. Wie üblich hatten nicht alle Eltern Zeit oder Lust oder es irgendwie für nötig befunden, sich zu versammeln. Ich glaube, das ist heute alles sehr anders. Auch was die Disziplinierung von ausscherenden Eltern angeht.
Und dann war es früh Morgens irgendwann 1983 im Spätsommer. Oder so. Die Klasse versammelt sich, entert den Bus. Also den Nahverkehrsbus. Die Reise führte uns von der Stadtteilgrenze Bahrenfeld/Ottensen nämlich ins unfassbar entfernte Rissen.
Drei Jahre später fuhr ich diese Strecke mit dem Fahrrad in ungefähr einer Dreiviertelstunde.
Diese Weltreise also begann banal im 188er Bus des HVV. Ich vermute ganz stark, dass wir bis Altona fuhren, dort in die S-Bahn umstiegen, nach Rissen fuhren und dort… keine Ahnung mehr.
Jedenfalls erreichten wir das Heim, irgendwo im Wald, stürmten die beiden großen Schlafsäle (Mädchen und Jungen getrennt versteht sich), und machten, was man in dem Alter wohl so macht. Balgten uns um die Betten, und mussten diese dann beziehen. Selbsttätig. Etwas, worauf meine Mutter mich akribisch vorbereitet hatte. Ich war wohl etwas… nun sagen wir skeptisch gewesen, ob ich das wohl allein… Mamajob… die Decke so riesig und der kleine Curi eben noch so klein und hilflos.
Ging dann aber. Ich weiß heute noch, dass ich es als persönlichen Sieg empfand, dass ich die Decke mit Hilfe von Sicherheitsnadeln irgendwie bezogen bekam, und dass auch das Bettlaken sicher auf dem Bett äh… war.
Wir liefen raus, erkundeten das Gelände, Frau C. wachte bestimmt über allem, aber an sie erinnere ich mich nicht mehr.
Tischtennisplatten! Steinerne. Die mit dem Metallnetz. Kein Profiequippement. Ja, wir waren eine nörgelige dritte Klasse. Egal. Was man dann so spielte bei uns hieß „Runde“. Also alle Jungs an einer Platte, nach der Ballberührung wanderte man um die Platte und der nächste in der – ich möchte „Polonäse“ schreiben – war dran. Wer den Schlag versemmelte war raus. Das Spiel wurde also je länger es dauerte dynamischer, weil natürlich immer weniger um die Platte rannten.
Es wurde wohl düster, Frau C. wies sicherlich in pädagogisch sinnvoller Form darauf hin, dass die jungen, sportlichen Herren sich so langsam mal dem Abendessen widmen mögen. Aber zackig.
Mehr oder weniger zivilisiert enterten wir den Essens-Saal und besetzten die lange Tafel. Auf der einen Seite die Jungs, auf der anderen die Mädchen. Bzw. zunächst niemand, weil die Mädchen offenbar noch gar nicht vor Ort waren.
Erhaben saßen wir dort, warteten auf unsere Gegenüber, und machten, was achtjährige Jungs eben so machen. Denke ich mir. Dann stürmte die weibliche Hälfte der Klasse herein und setzte sich. Ich weiß, dass ich plötzlich dachte, es sei doch super, wenn sich Monika mir gegenüber setzte.
Sekunden später saß Nicola vor mir.
Diese Enttäuschung ist bis heute in mir. Und sie wurde nicht kleiner, als ich begann mich zu wundern, wem gegenüber Monika denn wohl sitzen würde.
Monika nämlich saß nirgendwo.
Wie sich herausstellte, war Monika überhaupt nicht mitgefahren. Und es war wohl auch nie geplant gewesen.
An diesem Informationsdefizit meinerseits merkt der geneigte Leser wohl, wie viel wir sonst miteinander kommunizierten.
Der Rest der Woche verging irgendwie, ich weiß nicht mehr wie, die Enttäuschung beim Abendessen ist die letzte Erinnerung, die mir präsent ist.
Ob die fehlenden Erinnerungen nun Folge der Traumatisierung sind? Die mir aus dem Herz gerissene Flamme, meine zukünftige Gemahlin und Gefährtin, Partnerin bei dem, was Paare wohl so machen (nicht, dass ich seinerzeit eine Idee gehabt hätte, was das sei) und so weiter… Nicht da. Nicht bei mir. Oder ob das doch nur am Alter (also am heutigen. An meinem) lag, nun. Bilden Sie sich eine eigene Meinung.
Die Woche – ich erwähnte es – verging also. Wir kehrten heim. Und Tags darauf war Monika nicht in der Klasse.
Auch am Tag darauf nicht.
Und am Tag darauf.
Oder darauf.
Oder am folgenden Tag.
Auch nicht am nächsten Tag.
Möglicherweise sind die Tage in der Aufzählung durch ein Wochenende unterbrochen. Der lyrischen Dramatik wegen erlaube ich mir allerdings, das auszublenden.
Wo war ich? Monika war fort. Verschwunden. Hatte die Schule gewechselt. Nicht, dass mir das mitgeteilt wurde, aber muss sie wohl, schließlich kam sie am Tag darauf auch nicht (gut, es wird langsam etwas eintönig).
Das erste Drama meines noch jungen Lebens. Die große Liebe verschollen.
Nun. Tischtennisplatten hatten wir auf dem Schulhof auch. Ich spielte also weiter mit den Mitschülern „Runde“.
Nur Monika. Och…
Jahre später sah ich aus dem Bus heraus ein gleichaltriges Mädchen, das ungefähr aussah wie Monika in dem Alter dann wohl ausgesehen haben mag. Ich lächelte sie aus dem Bus an. Das ging dann mit 13 oder so etwas leichter als mit 8. Auch dank der dicken Glasscheibe zwischen uns.
Monika schaute …
…am Bus vorbei und verschwand im Altonaer getümmel.