Neuland?

Bei Apptalk schreiben sie darüber, dass Angela Merkels „Neuland“-Ausspruch vielleicht gar nicht so falsch war. Dass sie richtig liegt:

Angela Merkel hat das Internet “Neuland” genannt und für eine Welle der Empörung gesorgt. Ganz Twitter revoltierte, erhob die Fäuste, bei Facebook schimpfte man über die offenbar zurückgebliebene Kanzlerin. Dabei liegt sie eigentlich gar nicht so falsch.

Liegt sie aber.

Das Internet ist – je nachdem, wie man es zählen würde – älter als 30. Ich auch. Das WWW benutzen „wir“ hier seit knapp 20 Jahren, mal mehr, mal weniger intensiv. Früher waren wir im Usenet und im IRC, heute eher bei Facebook und Twitter. Irgendwann mal mit einer „Homepage“ bei Geocities, später bei woanders und noch später dann auf eigenem Webspace.

Wir waren bei MySpace und StudiVZ und sind da schon lange wieder weg. Wir haben „Baustelle“-Gifs gesehen, und „Best viewed with Netscape 2.5“.

Wir haben mit Freunden und Fremden diskutiert, und uns auseinandergesetzt.

Wir haben irgendwann gestaunt, dass wir gerade mitten in der Nacht mit jemandem in Australien darüber reden, wer in Amerika gerade in ein Hochhaus geflogen ist. Wir haben Leuten am Kiosk erklärt, warum die AOL-CD die sie gerade in der Hand halten nicht der beste Weg ist „dieses Internet“ zu besuchen.

Als ich hier einzog, war das so etwas wie meine Studentenbude zwischen anderen Studentenbuden. Neue Stadt, neue Leute. Damals, da war das hier vielleicht noch Neuland. Für mich war es das. Spannend und irgendwie unheimlich und unübersichtlich.
Und ich hatte keine Ahnung, ob und wie lange ich hierbleiben wollte. Und vielen anderen ging es genau so.

Jetzt wohne ich immer noch hier. Wir wohnen immer noch hier. Das ist mein „Zuhause“. Und das „Zuhause“ von vielen anderen. Oder Teil meines Zuhauses. Oder Teil von mir. Denn ich schreibe hier rein. Gedanken. Ideen. Frust. Freude.
Wo andere Tagebücher schreiben, twittern, facebooken, bloggen wir.

Na klar, hier „wohnen“ noch nicht alle, die auch in Deutschland leben. Vielleicht 10%, wahrscheinlich viel weniger. Aber angeblich 75% von 80 Millionen fahren hier wenigstens durch. Einige nur kurz und selten. Viele Aber häufiger. Täglich.

Sie kommen hierher, um ihre Bank zu besuchen, mit Freunden in Kontakt zu bleiben, einzukaufen. Sie suchen sich hier ihren Urlaub zusammen und hoffen auf Theater oder Fußballtickets.

Wenn das Internet eine Innenstadt hat, ist es ziemlich voll da.

Das Internet ist in Deutschland sowas wie eine Großstadt mit jetzt schon Millionen Einwohnern. Einwohnern, die wirklich hier leben. Die viele (aber – genau wie „draußen“ – nie alle) Ecken kennen, die wissen, wo der Bus hält, und wissen, welcher Busfahrer sie auch zwischen den Haltepunkten raus lässt. Die wissen, wo man wie bezahlt, und welcher Wirt in welcher Kneipe nie auf 50er rausgeben kann. Die wissen, wo es „ihr“ Bier gibt, und wem man besser nicht seine Kreditkarteninfos gibt. Die Plätze haben, wo sie sich mit ihren Freunden treffen, Plätze, wo sie mit Kunden hingehen, Plätze, die sie lieber allein besuchen.

In dieser Großstadt gelten dieselben Rechte und Pflichten wie überall sonst. So wie in Hamburg überwiegend dieselben Regeln gelten wie in München oder Köln.

Wir dürfen hier nicht einfach jemanden von einer Brücke werfen oder ihm sein Portemonnaie aus der Tasche ziehen.

Im Umland wohnen andere Leute. Mal näher dran, vielleicht in Vororten mit mehr grün, wo die Kinder noch zum Spielen vor die tür gehen können. Viele von den Vorortbewohnern pendeln eigentlich. Wohnen dort, arbeiten hier. Und je nach Lust und Laune gucken sie am Abend noch mal länger hier rein.

Und wieder andere wohnen weiter weg. Auf dem Land, am Meer, irgendwo „da draußen“.

Und wie das so ist, ziehen die jungen Leute eher in die Stadt. Hier gibt es Arbeit, Unterhaltung und Informationen. Hier gibt es Gleichgesinnte und andere, an denen man sich reiben kann.

Vielleicht wohnt Angela Merkel eher weiter draußen, wahrscheinlich will sie aber vor allem, dass wir glauben, dass die meisten irgendwo draußen wohnen. In der „So war es und so wird es bleiben“-Idylle.

Und na klar, die wollen auch nie in die Stadt, wenn sie so bleibt, wie sie ist. Denn die Stadt ist schmutzig und unübersichtlich. Hier ist es viel zu voll und man kann dazwischen stehen und ist einsam. Hier läuft einem jeden Moment jemand quer über den Weg, den man noch nie gesehen hat, und den man nie wieder sehen wird. Hier grüßen einen nicht alle. Hier gibt es 15 Bäcker von 3 Firmen in 5 Minuten Laufweite, und keiner sagt einem, zu welchem man gehen soll. Hier gibt es 200 Apotheken und die Apotheker kennen nicht mal den Namen meines Hausarztes. Und wenn man dann doch vom Land in die Stadt kommt, vielleicht weil man eingeladen wurde, oder weil einem jemand was zeigen wollte…. Vielleicht weil man hier ins Theater gehen will, Big Night out, dann ist es unheimlich hier. Neu. Unbekannt. Und vielleicht ist es aufregend und eigentlich total spannend, aber bestimmt ist es auch ziemlich gut, dass man danach wieder nach Hause kommt, wo man jeden Stein kennt.

Aber die Stadt ist kein Neuland genausowenig wie das Internet Neuland ist.

Vielleicht ist die Stadt „Anderland“ weil es nicht so ist, wie man es da draußen kennt. Weil man anderen Menschen und Gebräuchen begegnet, weil alles irgendwie anders ist, als es von zuhause bekannt ist.

Ich war gerade in München.
Als Hamburger. Der im Vorort lebt und in Hamburg aufgewachsen ist.

München ist ziemlich anders. Wenn ich aus dem Bahnhof komme, stehe ich irgendwo, wo ich noch nie war. Alles ist anders. Die Leute sprechen komisch. Menschen in Dirndln oder Lederhosen kommen mir entgegen und wollen weder zum Fasching noch zur „Oktoberfest“-Party. Das Bier gibt es in absurd großen Gläsern, und schmeckt daher schnell abgestanden. Die Kellnerin guckt beim Alsterwasser bestellen doof und irgendwann lerne ich, dass ich einen „Ruß’“ will.
Die Wurst ist blass hier und schmeckt seltsam und überall stehen Brezeln auf den Tischen, nur nehmen darf man sich keine, bzw. man muss sie bezahlen. Im Bahnhof bekomme ich nicht ein Franzbrötchen, nur Starbucks ist hier genauso wie zuhause.

Aber München ist kein Neuland. Die Münchner kennen das alles. Für die ist das alles normal. Ich bin neu hier. Nicht die Stadt.

Und wenn ich will, kann ich mich daran gewöhnen.

Hätte Frau Merkel gesagt, es sei Neuland für sie, hätte keiner was gesagt. Oder fast keiner.
Aber so?

„Das Internet ist Neuland“. Damit provoziert sie zu Recht Widerspruch.

Und genau so wenig wie das Internet Neuland ist, ist die „Welt da draußen“ nicht Neuland.

Drüben bei Apptalk; „Das Internet ist kein absolutes Neuland, aber es ist auch kein – wie suggeriert – komplett erobertes und in allen Winkeln strukturiertes Gebiet.“.

Nur: Das hat ja auch niemand behauptet. Und das ist es nirgends. Dazu müsste man nur mal vor die physische Tür gehen. Alles erobert, strukturiert, bekannt?

Statisch und unveränderlich? In Hamburg bauen sie gerade die Hafencity neu. Alles neu und anders. Neuland?

Halb Ostdeutschland wurde gefühlt in den letzten 20 Jahren neu-, um- oder abgebaut. Alles Neuland?

Wir haben alle 4 Jahre eine mehr oder weniger neue Regierung mit neuen Ideen. Neuen Gesichtern. Neuland?

Dann bin ich auch Neuland für mich. Jeden Tag. Immer wieder. 

Rückzugsgefecht?

Als bekennender Atheist hat man naturgemäß ein eher skeptisches Verhältnis zur Religion als solche. Von daher habe ich Richard Dawkins „The God Delusion“ vor einigen Monaten mit Begeisterung verschlungen (inzwischen auch auf Deutsch übersetzt erhältlich: „Der Gotteswahn“).

Dank Kardinal Meisners Aussage zu „entarteter Kultur“ ist die Kirche ja derzeit wieder gut im Gespräch. Spannend daran finde ich, dass inzwischen selbst die größten Agitatoren der Kirche scheinbar das Bedürfnis haben ein Gefecht zu führen, dass für mich immer mehr wie ein Rückzug wirkt.

Sollte der Gläubige, eigentlich jeder Mensch, nicht glauben, weil er damit das Richtige tut? Sollte er nicht glauben, weil es die Wahrheit ist, an die er glaubt? Weil in der Bibel Gottes Wort zu lesen ist? Eben weil all das an das er glaubt wahrhaftig ist? Eigentlich weil er weiß anstatt zu glauben?

Und dann kommt von Kardinal Meisner dies:

Wo die Kultur vom Kultus, von der Gottesverehrung abgekoppelt wird, erstarrt der Kult im Ritualismus, und die Kultur entartet. Sie verliert ihre Mitte
Nachzulesen u.A. bei SPON

Wo also eine Gesellschaft sich Säkularisiert und von der Kirche entfernt, wird sie Kulturlos, verliert ihre Werte.

Anders gesagt: Wir brauchen eine Religion um unsere Kultur und unsere ethisch-moralischen Werte aufrecht zu erhalten. Glaube also nicht mehr des Glaubens wegen, sondern um ein bestimmtes System zu stabilisieren.
Religion nicht mehr weil sie wahrhaftig ist, sondern weil wir sonst amoralisch, rituell, kultisch handeln würden. Weil wir sonst ‚entarten’ (die Diskussion über diesen Begriff überlasse ich gerne anderen).

Früher kam es mir so vor, als hätte die Kirche selbst ein ausreichend großes ‚Ego’, um offen dazu zu stehen, dass sie „Die Wahrheit“ spricht:

„Glaube, was wir dir erzählen, denn wir wissen was wir sagen und was wir sagen ist wahrhaftig!“

Inzwischen fühlt man sich aber scheinbar genötigt, darauf hinzuweisen, dass Religion ja auch kulturell wichtig sei, dass der Gesellschaft etwas fehlen würde.
Nur ist dies keine offensive Argumentation wie einst, sondern eine rein defensive. Es scheint, als gingen der Kirche langsam aber sicher die Argumente aus.
Denn dies ist die krampfhafte Suche nach einem Sinn eines Glaubens, genau so wie viele Gläubige wohl vor allem deshalb glauben, weil sie sonst keinen Sinn in ihrem Leben sehen.
Es ist der Versuch Religion einen neuen, einen zusätzlichen Nutzen aufzupfropfen um Ungläubige zurück zu gewinnen oder wenigstens davon abzuhalten eine Institution die sich im säkulären Westeuropa gewissermaßen überlebt hat, noch weiter in die gesellschaftliche Bedeutungslosigkeit zu drängen.
Und leider findet die Kirche mit so was immer noch viel zu oft Gehör, auch bei Nichtgläubigen.

Es ist ein Irrglaube, dass die Religion wenn schon nicht wahr, dann nützlich sei, weil sie die Moral stärke. Solange auch Nichtgläubige dem etwas abgewinnen können, haben die Meisners leichtes Spiel.
Robert Misik in der TAZ

Es bleibt zu hoffen, dass immer mehr Menschen zu ihrem Atheismus stehen.
Es bleibt zu hoffen, dass es immer mehr Menschen gibt, die wie Dawkins den Finger in die Wunden legen und darauf hinweisen, dass es überwältigend viele Argumente gegen einen Gott wie ihn die drei großen Religionen definieren gibt, und nach aktuellem Wissenstand keine dafür.

In diesem Sinne